Erkundungen #2 – Landschaften des Zorns
Erkundungen #2 – Landschaften desZorns
Erkundungen #2 – Zeitgenössische Landschaften des Zorns
Das Ressentiment ist ein Gefühl, welches sich auf eine gefühlte Verletzung gründet. (Uffa Jensen)
Das gegenwärtige Geraune von einem bevorstehenden „Wutwinter“ erinnert an den Begriff des „Wutbürgers“, der vor zwölf Jahren von dem Journalisten Dirk Kurbjuweit in seinem gleichnamigen Spiegel-Artikel geprägt und der ob seiner rasanten publizistischen ebenso wie wissenschaftlichen Karriere in Deutschland umgehend zum Wort des Jahres gewählt wurde. Dieser Begriff pathologisierte das Anliegen der damals in Stuttgart Demonstrierenden und überlagerte eine mögliche Auseinandersetzung mit dem emotionalen Impuls, demonstrieren zu gehen, durch diese moralisch-politische Bewertung mit einem polemisierenden Gestus. Denn was bedeutet es, wenn eine Person von einer Emotion besessen ist? Dass man sie nicht mehr für voll nehmen kann?
Die – rationale ebenso wie emotionale – Negation begründet das Vermögen, eine andere, eine bessere Zukunft zu erträumen und ein Unbehagen gegenüber gegenwärtigen Verhältnissen zu verspüren – eine der wichtigsten Quellen dafür, sich zu entschließen, eine politische Position öffentlich zu vertreten. Einerseits also Überforderung und Angst vor dem Fortschritt und andererseits Negation als Quelle für ein Aufbegehren, für Empowerment, für Veränderung. Mit diesem Spannungsfeld, den hieraus entstehenden politischen Handlungsfeldern, mit den Schwellen und deren Überschreitung, mit dem Gefühl der Empörung, des Ressentiments – des Zorn aber auch der daraus erwachsenden Hoffnung wollen wir uns in der zweiten Reihe der Erkundungen am Theater im Depot beschäftigen.
Zorngeladene Handlungen – auf den Straßen und an der Wahlurne – dominieren zur Zeit in vielen Gesellschaften. Dem Gefühlskosmos der Negation kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Zorn einerseits als Regung, die blind macht für das rationale Argument, als Zustand, der Verständigung verunmöglicht und offen macht für politische Verführungen. Verführungen, die die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens infrage stellen. Andererseits wird Zorn – wiederum als Impuls der Negation – zum Auslöser dafür, sich zu erheben, aufzustehen und für etwas zu kämpfen oder etwas aktiv zu bekämpfen, womit Bürger*innen in einer historischen Situation nicht einverstanden sind. Ob dies positiv oder negativ zu bewerten ist, ist dabei immer stark von der eigenen Perspektive abhängig.
Der blind machende Zorn wird in unseren westlichen Gesellschaften verbunden mit den sogenannten populistischen Bewegungen. Der Historiker Uffa Jensen stellt in seinem Essay „Zornpolitik“ (Berlin 2017) heraus, dass „moderne Gesellschaften Ressentiments“ produzieren, „weil sie Partizipationsversprechen niemals vollständig einlösen können.“ Das hierdurch ausgelöste Gefühl der fehlenden Anerkennung eigener Bedürfnisse und Interessen, welches, so Jensen, in einem fortwährenden grollenden Ressentiment resultiert, formiere sich durch einen konkret gefühlten Anlass zu einem starken Gefühl der Ablehnung und breche sich Bahn. Grollende seien auf der Suche nach Situationen, in denen sie solche starken, echten Gefühle empfinden könnten. Das Wandeln in den Landschaften des Zorns wird also selbst zu einem kathartischen Akt der Erlösung aus der eigenen Ressentiment-geprägten Lethargie. Mögliche Objekte des Zorns sind immer wieder kulturell oder ethnisch andere – als Sündenböcke – ebenso wie die gesellschaftlich anderen – zurzeit etwa die angeblich herrschende Klasse, die vermeintlich die wesentlichen Entscheidungen trifft, ohne die „Stimmen aus dem Volk“ zu beachten. Bewegungen, die derlei Ressentiment-Politiken verfolgen, konnten wir in den vergangenen Jahren zur Genüge beobachten. Die Polarisierung, die durch die starke Gefühlsregung zum Ausdruck kommt, offenbart neben der negativen Erregung zusätzlich ein Gefühl der Angst, welches im Zorn implementiert ist. Ausgehend von der eigenen sozialen Lage empfinden die Zornigen eine Ohnmacht, die vor der Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften kapituliert und einfache Lösungskonzepte sucht – oft in einer regressiven Art und Weise. Diejenigen, die die Komplexität vorgeblich durchschaut haben und fähig sind, sich in diesen komplexen Landschaften zu bewegen, an ihren zu partizipieren und sie zu gestalten, haben für die Zornigen entsprechend häufig nur Spott und Missachtung übrig – eine doppelte Kränkung ist die Folge. Wie aber können diese beiden Gruppen aufeinander zugehen, also die, die der Komplexität begegnen wollen und können, und diejenigen, die versuchen ihr auszuweichen?
Jensen beschreibt die Notwendigkeit, sich über gesellschaftliche Gefühle zu streiten. Den Theatern wird aus den Ressentiment-geladenen Bewegungen vorgeworfen, selbst zu Institutionen geworden zu sein, in denen nur noch bestimmte Formen der Empörung bzw. der Kritik zugelassen sind. Der Frage, ob an dieser Behauptung etwas dran ist, sollten sich die Theater und andere Kulturinstitutionen selbstkritisch stellen – was natürlich in keinster Weise bedeuten kann, diskriminierenden Artikulationen oder Meinungen die Tür zu öffnen und eine Bühne zu bieten. Gleichzeitig lässt sich ebenso konstatieren, dass viele nicht der heteronormativen weißen Mittelschichts-Ordnung entsprechende Positionen auf den Bühnen noch immer gar keine oder eine viel zu geringe Repräsentanz gefunden haben. Wie lässt sich beiden Seiten gerecht werden ohne sich einem Ausschließungswettbewerb hinzugeben?
Ein Ansatz könnte sein, für einen Moment von den konkreten politischen Artikulationen zurückzutreten und sich den ihnen zugrunde liegenden Gefühlen in einer größeren Bandbreite zu widmen – bevor sie zu einem Ressentiment, bevor sie zu einer verfestigten Meinung geworden sind. Dies jedoch erfordert Offenheit und eine gewisse Furchtlosigkeit – in den Institutionen ebenso wie im Publikum. Mit dem Programm der Erkundungen #2 wollen wir in einem solchen Unterfangen einen ersten Schritt unternehmen. So bearbeitet Rolf Dennemann im neuen Stück der Gruppe artscenico, Die Erregten. Bilder und Worte der Empörung, den Zorn alter Menschen in einem privaten Kontext. Er beschäftigt sich also mit einer Gruppe, der er selbst angehört und die in den gegenwärtigen Arbeiten nicht nur in der freien Szene enorm unterrepräsentiert ist.
Einem anderen Momentum geht die Kölner Gruppe Polar Publik um Eva-Maria Baumeister nach. In ihrem Projekt SING ANOTHER SONG! – PROTEST! geht es um den Moment, wenn individuelle Gefühle des Unbehagens, der Empörung und der Negation zu einer öffentlichen politischen Manifestation werden, wenn Menschen sich also entscheiden, mit ihrem Körper einen Platz im öffentlichen Raum einzunehmen und ihre politische Meinung allein schon durch diese Anwesenheit zu artikulieren – zusammen mit anderen, mit denen sie eine Masse bilden. Dieser Moment ist ein Moment, der Mut erfordert, denn er exponiert eine Meinung und die Person macht sich durch die öffentliche Artikulation angreifbar. In der Bundesrepublik, in der das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung in der Verfassung festgehalten ist und von der Polizei – solange keine verfassungsfeindlichen Aussagen getroffen werden – durchgesetzt wird handelt es sich bereits um ein erhebliches Risiko. Welch ungleich größerer Schritt ist es jedoch, sich in einer diktatorisch regierten Gesellschaft, wie zuletzt in Belarus oder im Iran und zaghaft auch in Russland dazu zu entschließen, den Unmut über gesellschaftliche Verhältnisse auf die Straße zu tragen?
Im Umfeld der beiden präsentierten Projekte wollen wir uns damit beschäftigen, wie man dem Furor des Gefühls entkommen kann, ohne es zu pathologisieren; wie man einen Weg zurückfinden kann zum Lachen, ohne über einander zu lachen; – und wie der Zweifel anstelle von Gewissheiten treten kann. Nach diesem ersten Block der Auseinandersetzung mit diesem Themenspektrum wird ein zweiter im späten Frühjahr 2023 folgen, in dem wir zwei feministische Positionen hierzu präsentieren werden. Seid herzlich eingeladen, diesen Weg mit uns zu beschreiten.