Theater des Lebendigen #1 – Holobiont_innen
Theater des Lebendigen – eine neue Programmreihe am Theater im Depot
Ab Herbst 2024 beschäftigen wir uns im Theater im Depot in wiederkehrenden Programmschwerpunkten mit der Verortung des menschlichen Organismus als Bestandteil von komplexen Ökosphären, ebenso wie mit deren Deformation, mit Extraktion und – als futuristisch bis utopisch ausgeprägte Perspektive – mit deren Erweiterung durch neuartige künstliche Lebensformen.
Ausgehend von einer Standortbestimmung des menschlichen Körpers und seiner Funktionselemente – Verdauung, Fortpflanzung, Bewusstsein, u.a. – planen wir individuelle, strukturelle oder handlungsorientierte Phänomene (künstlerisch) zu untersuchen und hieraus erwachsende politische, gesellschaftliche, aber auch metaphysische Fragestellungen zu bearbeiten und zur Diskussion zu stellen. Gleichsam planen wir, die Positionierung des menschlichen Organismus – als biologisches ebenso wie als gesellschaftliches Phänomen – zu befragen, indem wir künstlerische Positionen präsentieren, die sich mit normativen Konzepten wie Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen, deren Systematik untersuchen oder sie infrage stellen. Zum Dritten bildet die Untersuchung der Performanz des organischen Lebens ebenso eine Grundlage der Auseinandersetzung – in gleichem Maße mit biologischen Grundlagen, ebenso wie mit neuartigen künstlichen und synthetischen Formen des Lebendigen, denen wir uns in zukünftigen Ausgaben der Reihe widmen wollen.
Die ökologische Krise unserer Zeit – Warum können wir nicht schnell und effizient handeln?
Diese Standortbestimmungen programmieren wir vor dem Hintergrund der ökologischen Krise, deren Dringlichkeit in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland und der westlichen Welt eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz erfahren hat, während Handlungskonzepte zu deren Linderung nach wie vor in weitaus zu geringem Maße umgesetzt werden. Was macht es so schwer, andere Beziehungsmodelle zur Ökosphäre, deren Bestandteil wir sind, zu entwickeln, in Funktion zu setzen und zu etablieren? Braucht es eine andere Positionierung, ein anderes Verständnis des menschlichen Organismus – in seinen Funktionalität, in der Selbstwahrnehmung, im Denken von Handlungskonsequenzen – oder braucht es ein anderes ökonomisches und gesellschaftliches System als den extraktivistischen Kapitalismus – oder beides? Und was sonst noch?
Im Rahmen der Reihe wollen wir uns zum einen neuartige Verortungen erschließen, ebenso wie an der politischen Frage arbeiten, welche Handlungsszenarien aus diesen Verortungen erwachsen und wie sie umgesetzt werden können. Gleichsam wollen wir analysieren, warum sie bislang nicht umgesetzt werden und welche anderen Ansätze wir benötigen, um aus unseren Handlungsblockaden herauszufinden.
Die erste Ausgabe dieser Reihe – Holobiont_innen
Holobiont_innen widmet sich der Standortbestimmung und Funktionsweise des menschlichen Körpers und vereint vier choreographische und theatrale Arbeiten von Fabrice Mazliah, Layton Lachman sowie Antje Velsinger und Sepidar Theater sowie diskursive, essayistische und künstlerische Beiträge des Biologischen Medientheoretikers Peter Berz und des Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U).
Ausgangspunkt der programmatischen Auseinandersetzung ist die Symbiosetheorie von Lynn Margulis, welche der Beachtung des Prinzips von Austausch zwischen organischen Strukturen und deren symbiotischem Verschmelzen, komplementär zur Mutation als Grundprinzip der Evolution, zum Durchbruch verholfen hat.
Der menschliche ebenso wie jeder andere Organismus ist geprägt von mannigfaltigen symbiotischen Beziehungen – sowohl innerhalb des eigenen Körpers, der eigenen Organe, wie auch im Austausch mit der ihn umgebenden Ökosphäre. Die Grundlage dieser symbiotischen Beziehungen sind die Prinzipien von Bewegung und Dynamik, aus denen – nach Margulis – die Fähigkeit, sich zu verbinden erst erwächst. Bewegung ermöglicht Anpassung und damit das Einfügen in neuartige Umgebungen – die Entstehung von Eigenbewegung stellte evolutionshistorisch für bestimmte Mikroorganismen und Zellorganellen einen entscheiden Entwicklungsschritt dar. Bewegung ermöglicht symbiotische Entwicklungen – im Gegensatz zu mutierenden und damit verdrängenden Entwicklungen.
Insbesondere westliche Körperkonzepte und damit korrespondierende Beziehungsstrukturen zwischen Körpern genauso wie mit anderen organischen und anorganischen Elementen haben sich von der Idee und einem Denken integrativer Strukturen innerhalb einer Ökosphäre immer weiter entfernt und anstatt dessen abstrakten oder auch extraktiven – und insbesondere dominierenden – Beziehungsperspektiven den Vortritt gelassen. Das Verständnis des menschlichen Körpers – sowie gleichsam jedes anderen Lebewesens – als symbiotisches Kraft- und Transformationswerk ist dabei in den Hintergrund getreten. In unserem ersten Programm der neuen Reihe Theater des Lebendigen mit dem Titel Holobiont_innen widmen wir uns diesem symbiotischen Mechanismus des Lebendigen sowie möglichen neuartigen Beziehungsmodellen.
Der Begriff Holobiont_in bezeichnet den Metaorganismus, der einen Wirt ebenso wie die ihn bewohnenden anderen Mikroorganismen umfasst. Gemeinsam bilden sie eine komplexe Einheit, die wiederum in mannigfachem Austausch mit der sie umgebenden Ökosphäre steht. Die Idee eines funktional abgeschlossen Organismus ist damit hinfällig, während dieser anders reflektierte Körper insbesondere über die Dynamiken des Austauschs mit vielen anderen Systemen neu zu denken ist.
Sowohl Fabrice Mazliah (Embodying Bodies), wie auch Layton Lachman (infinity kiss) haben sich intensiv mit Lynn Margulis Theorien auseinandergesetzt und sie zum Ausgangspunkt ihrer choreographisch-theatralen Projekte gemacht. Antje Velsinger beschäftigt sich in ihrer neuen Arbeit GOODBYE/FAREWELL mit der Geste des Verabschiedens als Handlungsprinzip und Verarbeitungen von Verlusten im Kontext der ökologischen Krise. Worauf können wir verzichten, worauf offenbar nicht? Sepidar Theater schließlich nehmen eine Neuverortung der Mensch-Tier-Grenze vor und schließen damit den Kreis der Standortbestimmungen in unserem diesjährigen Programm ab.
Am letzten Oktoberwochenende und am ersten Novemberwochenende haben wir mit dem biologischen Medientheoretiker Peter Berz einerseits eine diskursive Position zur Arbeit von Lynn Margulis eingeladen und mit einer Präsentation des Projekts Beecoin des Zentrum für Kunst und Urbanistik (Berlin) ein künstlerisches Projekt, welches eine konkrete Handlungsebene zur Abstimmung der lebensweltlichen Bedürfnisse von Bienen und Menschen, die dieselbe Ökosphäre teilen, vorschlägt.